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Wer hat den 1. Kinderwagen in Zeitz gebaut?

Stellungnahme des Deutschen Kinderwagenmuseums zum Zeitzer „Kinderwagen-Streit“ vom 24.08.2022

Hintergrund

Im Januar 2022 stellte ein Heimatforscher die bisherigen Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zu den Ursprüngen der Kinderwagenherstellung in Zeitz in Frage.

Die der bisherigen Forschung zu Grunde liegende These lautet:

„Nach aktueller Quellenlage finden sich bisher keine eindeutigen archivalischen Belege dafür, ob Friedrich Degelow, Ernst Albert Naether oder ein anderer Handwerker die ersten Kinderwagen im modernen Sinn – Wagen zum liegenden Transport von Säuglingen – in Zeitz gebaut hat.“

Die Gegenthese des Heimatforschers lautet: „Dem derzeitigen Wissens-/Quellenstand folgend ist Friedrich August Degelow als alleiniger Begründer der Zeitzer- und, wenn gewollt, der deutschen Kinderwagenindustrie anzusehen. Er wagte und erbrachte über ein Jahrzehnt vor Ernst Albert Naether und anderen, „kurz nach 1848“, die Pionierleistung, erste Kinderwagen in Zeitz hergestellt zu haben.“ (Heimatforscher in einer E-Mail vom 30.01.2022)

Frage

Das Deutsche Kinderwagenmuseum erörterte daraufhin erneut folgende Fragestellung:

„Wer hat zu welchem Zeitpunkt mit dem Bau der ersten Kinderwagen in Zeitz begonnen?“

Quellenlage

Zur Klärung dieser Frage wurde erneut das Stadtarchiv Zeitz ausgewertet und die bekannten Quellen zu Beginn der Zeitzer Kinderwagenfertigung gesichtet.

Bereits 1996 sowie zuletzt 2011 führte die Stadtverwaltung eine umfangreiche Quellenauswertung zu dem Thema durch zwecks Vorbereitung der neuen Dauerausstellung, die seit 2015 zu sehen ist. Die aktuellen Nachrecherchen fanden zwischen dem 8. April und dem 28. Juli 2022 statt.

Trotz intensiver Recherche konnten keine neuen Quellen zur Thematik ermittelt werden.

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass die Quellenlage über die Erzeugnisse der Firma Ernst Albert Naether besser ist als über die Firma Friedrich August Degelow. Im Deutschen Kinderwagenmuseum sind nur zwei Kataloge der Firma Degelow erhalten. Es handelt sich dabei um Puppenwagenkataloge aus den Jahren 1910 bis 1912.

Im Gegensatz dazu ist die Kinderwagenproduktion von Ernst Albert Naether von Mitte der 1880er Jahre bis 1939 annähernd lückenlos dokumentiert (Kataloge ab 1889, Einzelblätter ab 1883).

Neben den Selbstzeugnissen der Firmen Naether und Degelow wurden auch  Sekundärquellen (z. B. Zeitungsberichte und Dissertationen) ausgewertet und in der detaillierten Stellungnahme aufgeführt.

Auch das neu erschiene Buch „Kinderwagen für Millionen“ von Petrik Wittwika (Halle 2022), das die Geschichte aller Kinderwagen-Hersteller in Zeitz behandelt, hat keine neuen Erkenntnisse zu der Fragestellung geliefert. Herr Wittwika würdigt in seinem Buch sowohl den Verdienst von Friedrich August Delegow als auch von Ernst Albert Naether um den Bau der ersten Kinderwagen in Zeitz.

Zusammenfassung der Antwort

Nach aktueller Quellenlage finden sich keine eindeutigen archivalischen Belege dafür, ob Friedrich Degelow, Ernst Albert Naether oder ein anderer Handwerker die ersten Kinderwagen im modernen Sinn – Wagen zum liegenden Transport von Säuglingen – in Zeitz gebaut hat.

Zweifellos stellten jedoch sowohl Friedrich Degelow als auch Ernst Albert Naether Wagen zum Transport von Kindern etwa zeitgleich um 1850 in Zeitz her und vertrieben diese erfolgreich. In diesem Sinne haben beide den Bau von Kinderwagen in Zeitz begründet.

Genau diese Erkenntnis ist wissenschaftlich belegt und wird auch im Deutschen Kinderwagenmuseum vermittelt.

Nachweislich hat jedoch der Unternehmer Ernst Albert Naether die industrielle Produktion der Kinderwagen hier in Zeitz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Blüte geführt. Denn die Firma E. A. Naether war um 1900 die größte Kinderwagenfabrik Deutschlands und bildete die Grundlage für die Entwicklung des VEB ZEKIWA Zeitz zum größten Kinderwagenhersteller Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Detaillierte Stellungnahme und Quellennachweise

Es gibt Selbstzeugnisse, dabei handelt es sich um die Jahreszahlen auf den Titeln der Kataloge von Degelow und Naether.

Auf sämtlichen Katalogen der Firma Naether steht „gegründet 1846“; die Firma beging ihr 50. Gründungsjubiläum 1896. In dem aus diesem Anlass gefertigten Jubiläumsbuch findet sich auch der erste Nachweis des Motives mit der Kinderwagenkette, das die Vorlage für Roland Lindners Bronzeskulptur darstellt, die der Lions Club Zeitz der Stadt Zeitz im April 2022 spendete.

Auf den Katalogen der Firma Degelow steht „gegründet 1843“. Das ist bekannt und seit Jahren in der Ausstellung des Deutschen Kinderwagenmuseums zu sehen.

Beide Selbstzeugnisse treffen jedoch keine Aussage darüber, wann Degelow oder Naether tatsächlich mit dem Bau von Kinderwagen begannen.

Heinz Sturm-Godramstein schätzt diese Leistung in seinem Buch „Kinderwagen gestern und heute“ (Neuauflage 2001) wie folgt ein:

„Ernst Albert Naether gebührt der Verdienst, den Kinderwagen als Gebrauchsgegenstand eingeführt und ihn auch den weniger begüterten Bevölkerungsschichten erschwinglich gemacht zu haben. Als hervorragende menschliche Persönlichkeit, als Repräsentant unternehmerischer Pionierleistung hat Naether einen festen Platz in der Industriegeschichte verdient.“

(Sturm-Godramstein, 2001)

Arthur Jubelt schreibt in den „Zeitzer Neueste Nachrichten“ vom 14. November 1936,

„dass von Zeitz aus die Kinderwagenindustrie ihren Siegeszug in die Welt genommen hat und dass der Begründer dieser bedeutenden Industrie ein geborener Zeitzer, Ernst Albert Naether, gewesen ist, dessen vor 90 Jahren gegründete Weltfirma neben all´ den anderen bedeutsamen Fabrikerzeugnissen wie Garten-, Kinder-, Küchenmöbeln, Liegestühlen, Kinderspielfahrzeugen, Rodelschlitten und Wirtschaftsgegenständen allein in diesem Jahrhundert, seit 1901, über 3,5 Millionen Kinderwagen und 2 Millionen Puppenwagen, also in dieser Zeit allein an solchen Wagen über 5,5 Millionen Stück mit über 22 Millionen Kinderwagenrädern hergestellt hat.“

In seiner Dissertation „Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Zeitz“ (Zeitz 1927) führt Walther Schulze aus:

„Zwei Männer waren es, die, dem aufkommenden Bedürfnis Rechnung tragend, 1846 mit dem Bau von Kinderwagen bzw. Gestellen für solche begannen und damit die später Weltruf erlangende Zeitzer Kinderwagenindustrie begründeten: der Schlossermeister Degelow und der Stellmachermeister Ernst Albert Naether.“ (S.58)

„Noch heute erzählen sich alte Zeitzer von dem unternehmenden Stellmachermeister, der mit den in langer Reihe hintereinander gebundenen Rädergestellen auf der Landstraße nach Leipzig pilgerte, wo die Gestelle dann zu fertigen Kinderwagen vervollständigt wurden.“ (ebd.)

Diese Begebenheit wurde von Karl Erich Merseburger in einer Grafik/ Zeichnung festgehalten (Jubiläumsbuch zum 50. Firmenjubiläum 1896).

Auch Hans Fülle nennt in seiner Dissertation „Die deutsche Kinderwagenindustrie“ (Frankfurt/Main 1928) Degelow – unter Berufung auf Zergiebel als Quelle – als ersten, der den Bau von Kinderwagen als neuen Gewerbezweig „kurz nach 1848 ins Leben gerufen hatte.“ (S.2)

Allerdings: „Von einem Kinderwagen in modernerem Sinne“, so Fülle, „d.h. einem Gefährt, das bereits viele ins Auge fallende Merkmale unserer heutigen Kinderwagen aufwies, kann man erst seit Ende der sechziger Jahre sprechen. Im vorangegangenen Jahrzehnt [gemeint sind die 1850er Jahr, Kinderwagenmuseum] war es außer dem Schlosser Degelow einem Zeitzer Wagner und Stellmacher, namens Naether, der als einfacher Geselle in Amerika geweilt, dort reiche Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt und auch die Fabrikation von Kinderwagen kennen gelernt hatte, mit unermüdlichem Fleiß gelungen, für seine handwerksmäßig hergestellten Kinderwagen eine ansehnliche Zahl von Abnehmern zu finden. Dank einer außergewöhnlich guten, sich ständig verbessernden Ausführung erschlossen sich den Naetherschen Wagen … immer weitere Gebiete für den Absatz.“ (ebd.)

„In diesem Zusammenhang“, so Hans Fülle weiter, „kann man nicht umhin, des Mannes zu gedenken, dessen Name mit dem Entstehen und dem raschen Aufschwung der deutschen Kinderwagenindustrie untrennbar verknüpft ist. Erinnert man sich seiner, so muss man sich gleichzeitig die Uranfänge der modernen Kinderwagenfabrikation ins Gedächtnis zurückrufen.

Der Verdienst, bahnbrechend für die damals in der Entwicklung begriffene deutsche Kinderwagenindustrie vorangegangen zu sein, gebührt ihm.“ (ebd. S.3)

Hans Fülle unterscheidet demnach – so wie es das Deutsche Kinderwagenmuseum im einführenden Video zur Ausstellung thematisiert – zwischen „echten“ Kinderwagen, also Wagen, die dem liegenden Transport von Säuglingen ab der Geburt dienen, und Sitzwagen wie dem Modell von Degelow oder auch dem englischen Patent von 1853, die ausschließlich für größere Kinder geeignet sind, die bereits sitzen können (heute: „Sportwagen“).

Stellungnahme zur Argumentation des Heimatforschers

Die – wissenschaftlich fundierten – Dissertationen von W. Schulze (1927) und H. Fülle (1928), die der in der Einleitung genannte Heimatforscher in seiner Literaturauswahl zwar aufführt, sind in seiner Argumentation nicht ersichtlich.

Der Heimatforscher beruft sich mit Ernst Zergiebel (Zergiebel, Ernst: „Chronik von Zeitz und den Dörfern des Zeitzer Kreises“, Zeitz 1896, Bd.3, Seite 95) vielmehr auf eine einzige, nicht weiter belegte Quelle, wenn er das Fazit zieht: „Dem derzeitigen Wissens-/Quellenstand folgend ist Friedrich August Degelow als alleiniger Begründer der Zeitzer- und, wenn gewollt, der deutschen Kinderwagenindustrie anzusehen. Er wagte und erbrachte über ein Jahrzehnt vor Ernst Albert Naether und anderen, „kurz nach 1848“, die Pionierleistung, erste Kinderwagen in Zeitz hergestellt zu haben.“ (E-Mail des Heimatforschers von 30.01.2022).

Dieser Einschätzung kann die Stadtverwaltung nicht folgen. Auch zahlreiche Autoren widersprechen ihr (siehe oben).

24.08.2022